Wu Ming
Notizen für eine
Erklärung der Rechte (und Pflichten) von Erzählern (*)
Präambel
Wer ist ein Erzähler und was sind seine Pflichten und Rechte?
Ein Erzähler (oder eine Erzählerin) ist, wer Geschichten erzählt oder Mythen neu bearbeitet, symbolische Zusammenhänge erstellt, die für eine Gemeinschaft verständliche Bezüge - oder zumindest einen bekannten Inhalt haben, oder auch nur von dieser zur Diskussion gestellt werden.
Das Geschichten Erzählen ist wesentlich für jede Gemeinschaft. Alle erzählen wir Geschichten, ohne Geschichten wären wir weder unserer Vergangenheit bewusst, noch unserer Beziehungen zum Nächsten. Es gäbe keine Lebensqualität. Der Erzähler aber macht das Geschichten Erzählen zu seiner Hauptbeschäftigung; es ist seine „Spezialisierung“, was sich wie die Unterscheidung zwischen Basteln als Hobby und Schreinern als Beruf verhält.
Der Erzähler deckt eine soziale Funktion ab -oder sollte das zumindest-, die vergleichbar ist mit dem Griot des afrikanischen Dorfes, dem Barden der keltischen Kultur, dem Aedo der klassischen, griechischen Welt.
Geschichten erzählen ist eine eigentümliche Arbeit, die dem der sie ausführt Vorteile bringen kann, aber es bleibt dennoch immer eine Arbeit, ebenso integriert in das Leben der Gemeinschaft wie das Löschen von Bränden, das Pflügen von Feldern, dem Betreuen von Behinderten etc.
Mit anderen Worten, der Erzähler ist kein Künstler sondern ein Handwerker des Erzählens.
Pflichten
Der Erzähler hat die Pflicht, sich seinen Mitmenschen nicht überlegen zu fühlen. Illegitim ist jegliches Zugeständnis an das idealistische und romantische Bild des Erzählers als angeblich „sensiblere“ Kreatur, die in Kontakt mit höheren Dimensionen des Seins steht, selbst wenn er über absolut banale Alltäglichkeiten schreibt.
Im Grunde basieren die lächerlichsten und schiessbudenartigsten Aspekte des Schreibens als Beruf auf einer degradierten Version des Mythos des Künstlers, der zum „Star“ wird, weil man ihn auf irgendeine Weise den „normalen Sterblichen“ als überlegen empfindet, als weniger armselig, interessanter und ehrlicher, in einem bestimmten Sinn auch als heroisch, weil er die „Qualen“ der Kreation erträgt.
Die Tatsache, dass das Stereotyp des „gepeinigten“ und „gequälten“ Künstlers sensationeller ist und mehr Gewicht hat als die Schwerarbeit desjenigen, der Versetzgruben sauber macht, verdeutlicht, wie schief die aktuelle Werteskala ist.
Der Erzähler hat die Pflicht, die Fabulierkunst, seine Hauptaufgabe, nicht mit einem besessenen, autobiografischen Exzess und einer narzisstischen Zurschaustellung zu verwechseln. Der Verzicht auf diese Haltungen erlaubt es, die Authentizität des Augenblicks zu wahren und ermöglicht dem Erzähler ein lebbares Leben anstelle einer Persönlichkeit, die er wie unter Wiederholungszwang schauspielern muss.
Rechte
Der Erzähler, der der Pflicht genügt, die obengenannten Stereotypen abzulehnen, hat das Recht, in Ruhe gelassen zu werden von den Verfechtern dieser armseligen Verhältnisse (klatschsüchtige Berichterstatter, aufdringliche, Skandal witternde Kulturreporter, etc.). Jegliche Verteidigungsstrategie gegen diese Aufdringlichkeiten muss darauf gründen, dieser Logik nicht zu entsprechen. Kurzum, wer den „Star“ mimen will, der soll bei geistlosen Fototerminen posieren oder auf Fragen zu jeglichem Thema antworten, hat aber keinerlei Recht, sich über dieses Eindringen zu beschweren.
Der Erzähler hat das Recht, nicht in den Medien zu erscheinen. Wenn ein Klempner nicht öffentlich auftritt, hält ihm das keiner vor oder klagt ihn an, snobistisch zu sein.
Der Erzähler hat das Recht, kein dressierter Salonaffe oder literarischer Hampelmann zu werden.
Der Erzähler hat das Recht, auf Fragen, der er als unpassend erachtet, nicht zu antworten (über das eigene Privatleben, sexuelle oder kulinarische Vorlieben, Alltagsleben, etc.).
Der Erzähler hat das Recht, sich nicht als Experte für jegliches Thema ausgeben zu müssen.
Der Erzähler hat das Recht sich mit zivilem Ungehorsam gegen die Anmassungen all derer aufzulehnen (einschliesslich der Verleger), die ihn seiner Rechte berauben wollen.
*Version vom 1. September 2000 - offen für Beiträge und Verbesserungsvorschläge seitens der Kollegen und Kolleginnen