Aus dem Englischen von Steffen Vogel This interview was published in the quarterly "kleine anfrage", no. 9, May 2005. For a free copy write to: KLEINE ANFRAGE; c/o Schwarze Risse; Kastanienallee 85; 10435 Berlin; Germany or send an e-mail to: redaktion@kleine-anfrage.org Die Kulturindustrie von der Graswurzel her reformieren Mit dem Roman "Q" landeten sie einen internationalen Bestseller, in der Debatte um geistiges Eigentum werden sie viel zitiert - das Schriftstellerkollektiv Wu Ming über kollektives Schreiben, Gegen-Information und kulturellen Guerillakrieg Frage: Zehn Jahre sind vergangen seit dem Debüt von Luther Blissett. Was waren die wichtigsten Charakteristika dieses Projekts? Und was ist geblieben? Wu Ming: Geblieben sind die Erfahrungen von hunderten Menschen im kulturellen Guerillakrieg, die während und nach diesem Projekt bei der Gründung von Web-Radios (z. B. Radio Luther Blissett in Madrid) und lokalen Fernsehstationen, Mediensturmtruppen (www.guerrigliamarketing.it), Gruppen von KunstsaboteurInnen (0100101110101101.org), Grafiklaboren (qwerg.com), Theater- und Performancekunst-Kollektiven (Zimmer Frei) oder Events wie den Illegal Art Shows mitgemacht haben. In allen diesen Projekten findet man Menschen, die in vielfältiger Weise am Luther Blissett-Projekt teilgenommen haben. Nicht zu vergessen, Blissetts Einfluss auf den kreativsten Flügel der Tute Bianche, welcher einige Wochen vor [dem Gipfelprotest in] Genua zu existieren aufhörte. Eine andere Sache die bleibt, ist das gute Ergebnis unserer Gegeninformations-Kampagnen. Der Staat hat gerade Marco Dimitri von den Kindern Satans für 400 Tage ungerechtfertigter Haft entschädigt. Er war unschuldig. Wir hatten es gesagt und eine Gegenuntersuchung durchgeführt, die bis 1996 zurückreichte. Der multiple Name hatte Vor- und Nachteile. Welche? Das Anstrengende an dem vielfach verwendeten Namen war, dass wir ständig wachsam sein mussten. Die Community hat sorgfältig darauf geachtet, dass niemand ein Copyright auf Blissett anmeldet, dessen Arbeiten und Handlungen öffentlich zugänglich bleiben sollten. Wir mussten bereit sein, uns von der Verwendung des Namens für faschistische, rassistische oder sexistische Inhalte zu distanzieren. Dank dieser Beobachtung blieb das Projekt konsistent. Das Gute war die Stimmung zwischen uns, da wir Empathie zwischen Menschen erfuhren, die sich niemals getroffen hatten. Und die große Effektivität des Namens als Verstärker: der Luther Blissett-Alias garantierte Sichtbarkeit für jedes Schreiben und Handeln, was wiederum der Reputation des imaginären Volkshelden weitere Anekdoten hinzufügte. Ja, dürfen Sie, aber wir experimentieren weiterhin mit dem Konzept, wir strapazieren die Regeln und gehen über uns hinaus. Es gibt verschiedene gemeinsame Projekte um Wu Ming und Giap, unserer E-Zine. Experimente mit kollektivem Online-Schreiben waren Geburtshelfer für andere Kollektive, wie Kai Zen ( www.kaizenlab.it) und Emerson Krott. Weiterhin gibt es iQuindici (dieFünfzehn), ein Komitee "selbstorganisierter LeserInnen", die, in weniger als zwei Jahren, Hunderte unveröffentlichter Romane und Kurzgeschichten gesichtet haben und unseren Verleger Einaudi dazu bewegt haben, Girolamo De Micheles Roman "Tre uomini paradossali" (Drei paradoxe Männer) zu veröffentlichen. Dann gibt es Zusammenarbeiten, welche die Konturen Wu Mings stätig verändern. Wir waren mit Vitaliano Ravagli Co-Autoren bei "Asce di guerra" (Streitäxte) und mit dem Regisseur Guido Chiesa beim Drehbuch von "Lavorare con lentezza" (Langsam arbeiten). Wir arbeiteten mit der Rockband Yo Yo Mundi ( www.yoyomundi.it ) an ihrem Album "54", das auf unserem Roman basiert. Das alles verträgt sich sehr gut mit der Idee einer offenen Community, die am Anfang der Gründung des Luther-Blissett-Projekts stand. Allgemeiner wird Wu Ming von einer Strategie beseelt, die darauf zielt, die Kulturindustrie von den Graswurzeln aus zu reformieren. Sie sind sowohl namenlos als auch berühmt. "Unbekannt" und doch erfolgreich. Genießen Sie das? Eine unserer Devisen lautet: "Transparent für die LeserInnen, undurchsichtig für die Medien". Vor einigen Tagen hatten wir unsere 200ste öffentliche Lesung, wobei wir eine Inspiration von (dem mexikanischen Schriftsteller) Paco Taibo II aufgegriffen haben, und sie "Versammlungen der demokratischen Republik der LeserInnen" nennen. Wir reisen kreuz und quer durch Italien, aber wir treten weder im Fernsehen auf, noch posieren wir für FotografInnen. Vor Jahren erschien ein Foto in der Presse, aber diesen Fehler haben wir nicht wiederholt. Wenn uns heute jemand auf der Straße erkennt, können wir ziemlich sicher sein, dass er eine dieser Versammlungen besucht hat. Denken Sie, ein Luther Blissett könnte heute existieren, oder, besser formuliert, sollte ein solches Gebilde gefährlichere und extremere Taktiken einsetzen? Wir sind selbst einige Risiken eingegangen, tatsächlich laufen immer noch Gerichtsverfahren. Wie auch immer, vielfach verwendete Namen gehören zur Tradition sozialer Bewegungen, vom "Armen Konrad", den die schwäbischen Bauern im 16. Jahrhundert angenommen haben zu "Ned Ludd" während der industriellen Revolution, vom "Capt. Swing" der englischen ländlichen Erhebungen zu "el Subcomandante Marcos" ("Wir sind alle Marcos", sagen die Zapatistas). Die Imagination der Besitzlosen ist in der Lage, neue Volkshelden zu erschaffen, wann immer sie ihrer bedarf und die angemessensten Taktiken zu finden. Informationstechnologien, das Internet und Mobiltelefone. Wie haben sie Ihre Art des Schreibens, Arbeitens und Kommunizierens verändert? Das Digitale ist so revolutionär wie das Alphabet. Der Computer ermöglichte rekursives Schreiben, du kannst das was du gerade geschrieben hast verändern, ohne die Fassung abzuwandeln oder zu zerstören. Ausschneiden und Einfügen ist viel einfacher und schneller. Was e-mail betrifft, so erlaubt es uns, Materialien in Echtzeit auszutauschen und den Fahnenabzug des Buches so oft wie wir es wünschen zu korrigieren - fünf, sechs Mal. Es ist ja nur eine elektronische Datei. Als Rechercheinstrument ist das Netz unschätzbar wertvoll, es ist als ob man einen Eimer in einen bodenlosen Brunnen herablässt. Unsere Art zu arbeiten, und tatsächlich nicht nur unsere, wäre in einem prä-digitalen Kontext unmöglich. Wenn man das sagt, steht diese Revolution auf wackeligen Beinen, da sie vollständig von der Stromversorgung abhängig ist. Gibt es einen Stromausfall, bist du blockiert, genauso wie die Möglichkeit, Kultur zu bewahren und an die Nachwelt weiterzugeben. Copyright und copyleft. von
den beiden? |