Süddeutsche Zeitung (DEU) 18.01.2003
Diese Revolution hat kein Gesicht
Der italienische Kollektivautor Luther Blissett veröffentlicht seinen Bestseller "Q" auf Deutsch
Nach Guerilla sieht es hier nicht aus. Nicht nach Sabotage und auch nicht nach Kriegskunst. Das Appartement in der Via Zamboni, der Hauptstraße des Univiertels von Bologna, ist gutbürgerlich eingerichtet. Die Nachbarin im Palazzo grüßt freundlich. Die Schriftsteller um den runden Holztisch wirken wie für einen Medienauftritt gecastet. Da ist der gut aussehende Federico, der tätowierte Postpunk Ricardo mit Glatze, der mutmaßlich über Häuserkämpfen ergraute Luca und der untersetzte Intellektuelle Roberto. Eigentlich alles so, wie es sich für eine Bestseller-Geschichte gehört.
Der Roman "Q", 1999 erschienen, war die literarische Sensation der Saison und brachte es in Italien auf 100 000 verkaufte Exemplare und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Ein Erfolgsbuch eben, samt Erfolgsautoren. Wäre da nicht dieser Name "Luther Blissett".
Luther Blissett als Person ist zwar bekannt. Aber nur als Ex- Fußballprofi des AC Mailand. Als Verfasser von "Q" kam der nicht in Betracht. Immerhin ein Werk von 600 Seiten, bestens recherchiert und brillant geschrieben. Die italienische Öffentlichkeit machte sich nach Erscheinen fieberhaft auf die Suche nach dem Autor. Da es sich um einen historischen Roman handelt, in dem das Ende des Mittelalters durch die Reformationsbewegungen geschildert wird, schien die Spur zu Umberto Eco zu führen. Hatte man nicht zu Zeiten von "Der Name der Rose" darüber spekuliert, dass ein solches opus magnum nur eine Autorengruppe verfasst haben könnte? Zudem drangen Informationen durch, dass der oder die Verfasser aus Bologna kommen sollten, wo Eco seit Jahrzehnten Semiotik unterrichtet. Doch weder der Professor noch andere Schriftsteller im bürgerlichen Sinne verbargen sich hinter dem Pseudonym.
"Wir sind alle Luther Blissett", erklärt Luca die Strategie der Subversion, die sich mit dem Kollektivnamen verbindet. Als die Gruppe aus Bologna Anfang der 90er Jahre den Namen übernahm, kursierte er bereits in britischen Künstlerkreisen.
Bis zum Roman "Q" machte das Bologneser "Luther-Blissett-Projekt" vor allem über Happenings und Medienfakes von sich reden. So erfanden sie etwa einen englischen Künstler Harry Kipper, der angeblich im Friaul verschwunden sein sollte. Die TV-Sendung "Chi l'ha visto?", in der vermisste Personen gesucht werden, interessierte sich für die Story.
Die Journalisten ließen sich auf einer ausgelegten Fährte bis nach London locken. Stets fanden sie über kleine Hinweise wieder eine Person, die Kipper noch gesehen haben wollte - alle diese Kontakte waren von italienischen oder englischen Blissetts inszeniert. Kurz vor der Ausstrahlung ergab ein Anruf des Senders RAI bei der britischen Botschaft, dass Harry Kipper gar nicht existiert. Die Sendung musste zurückgezogen werden.
Die Waffen des Feindes
In den darauf folgenden Tagen spottete "Luther Blissett" in diversen Zeitungsartikeln über die Einfalt und Sensationslust der Medien. In dem theoretischen Essay "Totò, Peppino e la guerra psichica" zitiert Blissett dazu die "Kunst des Krieges" von Sunzi Man müsse die Waffen des Feindes gebrauchen und sie schließlich gegen ihn wenden. Legendär ist auch die Blissett-Busfahrt mit einem einzigen Ticket. Als die Großgruppe kontrolliert wurde, sagte jeder, er sei Luther Blissett und der habe ja ein Billett. Angeblich gab es dafür eine Nacht im Gefängnis.
Das alles klingt ein wenig nach dem Postmoderne-Spielchen mit Namen und Identitäten. Doch die Aktionen gehen über den 80er-Jahre-Diskurs weit hinaus, sind Teil von Netzkultur, Globalisierungskritik und Diskussionen um das geistige Eigentum. Zum ersten Mal in der italienischen Verlagsgeschichte handelten die Autoren ein Anti-Copyright für "Q" heraus. Eine Auflage, die auch der Münchner Piper-Verlag für die deutsche Ausgabe übernehmen musste. Das Werk kann so für nicht-kommerzielle Zwecke zum Beispiel ins Internet gestellt und ohne strafrechtliche Verfolgung verändert werden. "Bei unserem Ansatz wäre alles andere völlig absurd", kommentiert Roberto und redet lange über das Ende des genialischen Poeten, der uns die Welt erklärt.
Extreme Abneigung habe man gegen Star-Autoren, ergänzt Ricardo in abgeklärtem Ton. "Das Hetzen von Event zu Event, die mediale Präsenz für ein Kriterium von Literatur zu halten, ist lächerlich." Was nicht bedeutet, dass sich die Autoren hinter "Luther Blissett" dem Kulturbetrieb entzögen. Man kennt ihre bürgerlichen Namen, sie geben Interviews, nur fotografieren lassen sie sich nicht so gern. Wenn's mal ein Bild gibt, wird der Namenswechsel schwieriger.
In einer Welt ohne Ausweis mit Lichtbild spielt der Roman "Q". Sein Held ist ein Abenteurer mit ständig wechselnden Namen, der sich zwischen 1515 und 1555 durch so ziemlich alle Aufstände gegen die klerikale Macht schlägt, die Europa gesehen hat. Von Wittenberg über Münster und Antwerpen bis nach Venedig streitet er für die Befreiung der Unterdrückten. Dann merkt er, dass es nicht nur um Ideen, sondern vor allem um Märkte geht. "Das war ein wichtiger Punkt für uns, dass sich in jener Zeit auch der heutige Kapitalismus entwickelt", sagt Federico.
Hinter den Herrschern stehen die Banken, allen voran die Fugger, die über ein ausgeklügeltes Kreditsystem dem Machtkampf das nötige Kapital verschaffen. Wer diesem System Paroli bieten will, muss nicht nur die Herzen, sondern vor allem die Konten bewegen. So fälschen der Held und seine Vertrauten Wechselscheine der Fugger und verdienen damit ein Vermögen.
Im Buch geht es um die Sabotage der herrschenden Macht, um die Subversion des hegemonialen Sinns. Vor dem Hintergrund der Autorengeschichte bekommt der Roman einen doppelten Boden. "Vielleicht haben wir mit ,Q' unbewusst eine Art Autobiographie unserer Gruppe geschrieben", schmunzelt Federico, "damals waren wir ja noch Luther Blissett."
Schon zu Beginn des Projekts war der Namenswechsel Bestandteil eines Fünfjahresplans. Am 31.12.1999 verübten die Autoren symbolischen Selbstmord. Seitdem nennen sie sich "Wu Ming", was auf Mandarin-Chinesisch "niemand" oder "nicht berühmt" bedeutet. Darin verbindet sich die Kritik am westlichen Subjektbegriff mit dem neuen Credo der Gruppe, dass die Zukunft der Menschheit im Osten liege.
Als Wu Ming haben die nunmehr fünf Autoren im Frühjahr 2002 den Roman "54" veröffentlicht Ein Panorama des Jahres, in dem das Fernsehen in Italien seinen Siegeszug begann, der Adria-Schmuggel über den Eisernen Vorhang blühte und die Eleganz von Gary Grant zum Maßstab des Gentleman wurde. "Eigentlicher Protagonist ist ein Fernsehapparat", erklärt Roberto, "das wollen wir auch in Zukunft versuchen, aus der Ding-Perspektive zu schreiben." Nach Kommunikationsguerilla wie noch zu Blissett-Zeiten klingt das nicht. Wu Ming präsentiert sich dementsprechend auf der Homepage (www.wumingfoundation.com) auch eher als Schreibwerkstatt mit breitem Einsatzgebiet. Auch nach Zeichenkrieg sieht das nicht mehr aus. Aber wie heißt es bei Sunzi Man muss die Mittel des Feindes kennen, um sie zu gebrauchen.JÖRG METELMANN
LUTHER BLISSETT Q Piper-Verlag München 2002. 799 Seiten, 22,90 Euro.